Im Vorfeld der für den 23. Oktober angesetzten Wahlen, den ersten seit dem Sturz Ben Alis, wehrt sich die Polizei mit Tränengas gegen islamistische Demonstranten, die sie mit Steinen, Stöcken und Messern bedrohen. Es sind die schlimmsten religiös motivierten Ausschreitungen in Tunis seit Jahren. Die radikalen Islamisten befürchten, dass die neue Verfassung ihren Vorstellungen nicht genügend Rechnung tragen wird, doch könnten die Zusammenstöße den säkularen Kräften mehr Stimmen einbringen. Im Ursprungsland des „arabischen Frühlings“ wachsen die Spannungen.
Der Außenminister hat erklärt, dass die Regierung bereit ist, am 23. Oktober die ersten Wahlen seit dem Sturz des langjährigen Diktators Ben Ali abzuhalten. Um den Wählern zu helfen, sich durch den Dschungel von etwa 100 Parteien zu arbeiten und Orientierung zu finden, hat eine Gruppe Deutsch-Tunesier ein Internet Programm entwickelt. „TuniVote“, ist die tunesische Version von „Wahl-O-Mat“. Bei vier Millionen Internetnutzern (von einer Gesamtbevölkerung von zehn Millionen) gibt es Erfolgschancen für die Online Hilfestellung.
Auf der Insel kam es am Mittwoch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Migranten und Inselbewohnern. Tunesische Flüchtlinge hatten das Aufnahmelager angezündet, was die Schläge und Beschimpfungen auslöste. Dis Bischöfe von Tunis und Agrigent befinden sich zurzeit auf der Insel, besorgt um die Lage. Mit der Ankunft von 48,000 Flüchtlingen, allein in diesem Jahr, waren die Insulaner ohne Hilfe vom Festland total überfordert.
Der ehemalige Sicherheitschef und Kommandeur der gefürchteten Präsidentengarde unter Ban Ali wurde von der Anklage freigesprochen, der Familie Ben Ali mit gefälschten Pässen zur Flucht verholfen zu haben, muss sich aber noch weiteren Anklagen stellen. 23 andere Mitglieder der Familie Ben Ali's wurden verurteilt. Ben Ali und seine Frau war schon früher wegen Korruption in Abwesenheit verurteilt worden. Saudi Arabien hat bisher die Auslieferung der Familie an die tunesische Justiz verweigert.
Tunesien will Demokratie und Rechtsstaatlichkeit demonstrieren und hat als erster nordafrikanischer Staat den Internationalen Gerichtshof anerkannt sowie die Menschenrechts- und Antifolterkonvention unterzeichnet.
Ben Ali und seine Frau wurden wegen Veruntreuung von öffentlichen Geldern in absentia zu je 35 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Das Urteil nach nur sechs Stunden wurde als Farce bezeichnet „gerichtlich Unsinn, aber politisch zweckdienlich”. Die Tunesier wollten einen richtigen fairen Prozess mit Zeugenaussagen. Weitere Vorgehen sind geplant. Die Beiden werden die Strafe nie antreten, da es unwahrscheinlich ist, dass Saudi Arabien sie ausliefern wird.
Auf der kleinen Insel Lampedusa gibt es inzwischen mehr Flüchtlinge als Einwohner. Täglich kommen neue überfüllte Boote an, die meisten aus Tunesien. Pater Stark vom Jesuitenflüchtlingsdienst berichtet von katastrophalen Zuständen, von Lebensmittelknappheit und Gefahr von Epidemien. Wenn die drohende Flüchtlingswelle von Libyen vermutlich noch dazu kommt, müssten Mitgliedstaaten der EU sich solidarisch zeigen und wenigstens vorübergehenden Schutz gewähren.
Unter Ben Alis Regierung war sie für viele Menschenrechtsverletzungen verantwortlich und vom Volk gehasst. Ihre Auflösung war eine Kernforderung der Opposition. Der Übergangspremier hat für nach den Wahlen am 24. Juli eine neue Regierung versprochen, die keine Mitglieder des alten Regimes enthält, was viele Demonstranten als endgültigen Sieg sehen.
Nach wochenlangen Protesten ist der tunesische Ministerpräsident nun zurückgetreten, um weiteres Blutvergießen zu verhindern. Ghannouchi, langjähriger Regierungschef unter Ben Ali, wollte erst nach den Neuwahlen im Juli gehen, aber der Unmut der Tunesier gegen seinen Verbleib im Amt, der am Wochenende noch drei Todesopfer forderte, brachte die schnelle Entscheidung.
Der seit dem Umsturz mutmaßlich vernachlässigte Grenzschutz ermutigt viele Tunesier zur Überfahrt nach Lampedusa. Die nur 20 qukm große italienische Insel hat das inzwischen geschlossene Flüchtlingslager wieder eröffnet und den humanitären Notstand erklärt. Die von Rom angebotenen Polizeikräfte zur Eindämmung des Flüchtlingsstroms vor seiner Küste lehnt Tunesien als Einmischung ab.